Die vielen Leben eines Ortes
Abseits der öffentlichen Wahrnehmung liegt ein weitgehend vergessener Teil des alten Weddings. Aber dieser Ort ist besonders – bis heute.
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Wedding der „Berliner Asylverein für Obdachlose“ gegründet. Er errichtete und unterhielt Unterkünfte für obdachlose Menschen. Die größte war der Komplex in der Wiesenstraße. Die „Wiesenburg“ stand direkt an der Panke, die an diesem Ort eher einem Kanal gleicht, als einem Fluss. 1896 eröffnet, bot es etwa 700 Männern eine Unterkunft für die Nacht. Anders als in anderen Einrichtungen wurde hier nicht versucht, die Besucher zu missionieren. Stattdessen bot man ihnen neben der Übernachtung auch Duschen und Badewannen, eine Möglichkeit zum Waschen der Kleidung und sogar eine Bibliothek. Die Schlafräume waren beheizt und hatten fließendes warmes Wasser. 1906 kamen weitere 400 Schlafplätze speziell für Frauen und Kinder dazu.
Viele Künstler besuchten die Wiesenburg, Hans Fallada, Carl von Ossietzky, Erich Kästner oder Heinrich Zille wurden dort mit der geballten Armut konfrontiert und verarbeiteten sie in ihren Werken. Abends bekamen die BesucherInnen Brot und Suppe, morgens zwei Schrippen und Kaffee. Bis 1910 waren die Besucher in der Wiesenburg sogar sicher von Verfolgung durch die Polizei, diese hatte dort keinen Zutritt.
Doch schon vor der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre konnte der Verein das Angebot kaum noch finanzieren. Bereits während des Ersten Weltkriegs vermietete er Teile des Komplexes als Werkstätten. 1926 wurde das gesamte Gelände an die Jüdische Gemeinde Berlin verpachtet, die es bis 1933 weiterbetrieb.
Mit der Machtübergabe an die Nazis musste das Obdachlosen-Asyl schließen. Sie nutzen die Räume teilweise selber, während des Zweiten Weltkriegs wurden dort dann auch Rüstungsgüter hergestellt. In den Kellern sind Zwangsarbeiter eingesperrt worden.
Im Krieg fielen mehrfach Bomben auf die Wiesenburg, ein großer Teil wurde beschädigt oder ganz zerstört. Aufgrund der Wohnungsnot im Nachkriegs-Berlin siedelten sich in den verbliebenen Räumen Familien an, die ihre Wohnungen verloren hatten. Wieder war die Wiesenburg also ein Ort, an dem Obdachlose unterkamen – wenn auch unter viel schlechteren Bedingungen, als 20 Jahre zuvor.
Lange standen die Gebäude dann leer, nur Teile wurden von Firmen genutzt. Eine Reihe von KünstlerInnen nahmen sich die Räume, es wurden Ateliers eingerichtet, Skulpturen und Bilder entstanden hier, Konzerte und Partys wurden abgehalten. Währenddessen wucherten die Ruinen und Halbruinen langsam zu, Bäume wuchsen durch die Böden und Decken. Der morbide Charme des Vergangenen zog nun auch Filmemacher an. Wie schon zuvor Fritz Lang, der hier Szenen für „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ drehte, konnte man später Teile der Wiesenburg in „Lili Marleen“, „Die Blechtrommel“, „Fabian“ oder „Ein Mann will nach oben“ sehen.
Mitte der 2010er Jahre übertrug der Berliner Senat das Eigentum der einstigen Wiesenburg an die landeseigene Wohnbaugesellschaft Degewo. Sie versuchte, die Handwerker und Künstler loszuwerden, aber diese wehrten sich. Rund ein Dutzend Werkstätten, Ateliers und Initiativen nutzen heute die noch bestehenden Gebäude.
Übrigens gibt es auch heute noch einen kleinen Ort, an dem Obdachlosen geholfen wird. Schräg gegenüber der Wiesenburg, auf dem Hof der Wiesenstr. 16, befindet sich die „Jute Stube“, ein kleines Café. Hier bekommen Bedürftige ein gut belegtes Sandwich für einen Euro und einen Pott Kaffee für 50 Cent. Außerdem gibt es kostenlos Kleidung und andere Dinge.